Was ist Mozart-Gesang?


- Rückblick, heutiges Ideal, kritische Betrachtung und Ausblick

- erschienen in der nmz (Neue Musikzeitung), Ausgabe Juli/August 2006

Beginnen wir die Ausführungen über ein Phänomen, welches in besonderem Maße der Mode im Wandel der Zeiten ausgesetzt ist, mit einem Zitat des Komponisten selbst:

„...die prima Dona singt gut, aber still, und wenn man sie nicht agiren sehte, sondern singen nur allein, so meinete man, sie sienge nicht, dan den mund kan sie nicht eröpfen, sonder winselt alles her, welches uns aber nichts neües ist, zu hören. la seconda Dona macht ein ansehen wie ein granadierer, und hat auch eine starcke stime, und siengt wahrhaftig nicht übel auf...“ (1)

An vielen Stellen des überlieferten Briefwechsels Mozarts finden sich solche oder ähnliche Sätze, die deutlich machen, dass der Komponist durchaus kein Freund zu intimen Gesangs war und auch die Expression und das Feuer (also die Dramatik) in der Darbietung immer wieder einforderte. Aber bevor wir uns Mozarts Vorstellungen genauer widmen, sei ein Blick in die heutige Zeit und in frühere Jahrzehnte erlaubt.

Wie stellt es sich heute dar?

Seit der Hinwendung zum sogenannten Barockgesang unserer Zeit, der Vorliebe für sehr schlanke, manchmal sogar dünne Stimmen und damit verbunden leider häufig auch Ausdruckslosigkeit, Gefühlsarmut, Sterilität als gesangliches Ideal, hat auch der Mozart-Gesang mehr und mehr diese Richtung genommen.
Ein Streifzug durch Rezensionen von Mozart-Opern-Produktionen unserer Tage macht deutlich, dass guter Mozart-Gesang meistens gleichgesetzt wird mit kleinen, schlanken Stimmen - wobei das Attribut „schlank“ näher zu hinterfragen und definieren wäre - mit möglichst keinem oder wenig Vibrato. Kaum hat eine Stimme ein größeres Format wird ihr meist die Fähigkeit zu kultiviertem Mozart-Gesang abgesprochen. Vielfarbigkeit und dramatische Ausdruckskraft scheinen derzeit verpönt, dadurch fehlen aber wichtige theatralische Mittel, denn mit schlanker Linienführung allein ist keine Bühnenrolle zum Leben zu erwecken, auch nicht bei Mozart.

Das war nicht immer so. Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts und teilweise noch bis in die 70er Jahre hinein wurden große Stimmen besonders für die heroischeren Mozart-Rollen eingesetzt, was auf zahlreichen Einspielungen (2) belegt ist: eine Donna Anna oder eine Königin der Nacht, aber auchKonstanze wurden mit dramatischen Koloraturstimmen besetzt; eine Contessa, Donna Elvira oder Fiordiligi war jugendlich-dramatisch und Rollen wie die des Sarastro oder Osmin wurden wirklich schweren Bassstimmen anvertraut. Die großen Don Giovannis waren überwiegend Sänger mit vollen, blühenden „italienischen“ Stimmen.

Durch diese Art der Besetzung war der Kontrast zu den leichten Stimmen eines Blondchens, einer Susanna oder Despina, oder bei den Männerrollen eines Figaro, Papageno, Don Ottavio oder Tamino gewährleistet und eine Personencharakteristik wurde glaubhafter.
Sicher führte der Einsatz von sehr ausladenden Stimmen, die häufig durch das gleichzeitige Singen im oft forcierten Wagner-Fach sogar hörbar geschädigt waren zu einem deutlichen Mangel in der Linienführung und Intonation beim Mozart-Gesang und lyrische Elemente wurden der reinen Dramatik aufgeopfert, was dann Momente der Innigkeit und Wärme vermissen ließ.

Vergleicht man das Klangideal früherer Jahrzehnte mit heutigen Präferenzen drängt sich der Eindruck auf, dass das „Glück“ wie so oft in der Mitte liegen dürfte:

Das Optimum für interessanten, innigen und theatralischen Mozart-Gesang wären dann Sänger mit einer vielfarbigen, großen Stimme (3) mit Vibrato, die fähig ist zu schlanker Linienführung, sowie Beweglichkeit aber auch dramatischer Ausdruckskraft, die sowohl im piano wie im forte klangvolle Akzente zu setzen imstande wären und das Gefühl und die Individualität der Rolle in den Vordergrund stellten.

Diese Beschreibung scheint auch genau den Vorstellungen Mozarts zu entsprechen, wenn man seine Briefe und Aufzeichnungen zu diesem Thema näher studiert. Einige seiner Äußerungen seien hier genannt:

„(...) die Menschenstimme zittert schon selbst - aber so - in einem solchen grade, dass es schön ist – dass ist die Natur der stimme. man macht ihrs auch nicht allein auf den blas-instrumenten, sondern auch auf den geigen instrumenten nach (...)“ (4)

„(...) - wegen der 2 scenen (5) die abgekürzt werden sollen, ist es nicht mein vorschlag, sondern nur mein Consentement – und warum ich sogleich nemlicher Meynung war, ist, weil der Raaff und del Prato das Recitativ ganz ohne geist und feuer, so ganz Monoton herab singen (...)“ (6)

„(...) - wie par Exemple die Erste aria Vedròmi intorno Etc: wenn sie sie hören werden, sie ist gut, sie ist schön – aber wenn ich sie für Zonca geschrieben hätte, so würde sie noch besser auf den Text gemacht seyn. – er (Raaff) liebt die geschnittenen Nudeln zu sehr – und sieht nicht auf die Expression. (...)“ (7)

„(...) aber so wie sie da producirt, und gesungen wurde (8) , mit dieser accurateße im gusto, piano und forte. (...)“ (9)

„(...) – vor allem lege ich Ihnen den Ausdruck nahe – empfehle Ihnen, über den Sinn und die Macht der Worte nachzudenken – sich ernsthaft in den Zustand und die Situation der Andromeda zu versetzen – sich vorzustellen, Sie selbst seien diese Person (...) “ (10)

„ (...) wer die gabrielli gehört hat, sagt und wird sagen, dass sie nichts als eine Pasagen- und Rouladen-macherin war; und weil sie sie aber auf eine so besondere art ausdrückte, verdiente sie bewunderung, welche aber nicht länger dauerte, als sie das 4:te mahl sang. denn sie konnte in die länge nicht gefallen, der Pasagen ist man bald müde; und sie hatte das unglück das sie nicht singen konnte. sie war nicht im stande eine ganze Note gehörig auszuhalten, sie hatte keine meßa di voce, sie wüste nicht zu Soutenieren, mit einen wort sie sang mit kunst aber mit keinem verstand. diese (11) aber singt zum herzen, und singt an liebsten Cantabile. (...)“ (12)

„ (...) Ruggero (...) canta un poco manzolisch ed à una bellißima voce forte ed è già Vecchio, hà cinquanta cinque anni ed à una leiffige gurgel. (...) fà una donna, la moglie di afferi, à una bellißima voce, ma c’è tanto sußurro nel theatro, che non si sente niente. (...)“ (13)

„(...) wenn nur die verfluchte französische sprache nicht so hundsfüttisch zur Musique wäre! – das ist was Elendes – die Teütsche ist noch göttlich dagegen. – und dann erst die sänger und sängerinnen – man solle sie gar nichr so nennen – denn sie singen nicht, sondern sie schreyen – heülen – und zwar aus vollem halse, aus der Nase und gurgel (...)“ (14)

Resümee:

Zusammengefasst forderte Mozart:
Geist und Feuer im Rezitativ-Gesang, Expression, Beschäftigung mit Sinn und Macht von Worten, das ernsthafte sich Hineinversetzen in die jeweilige Rolle und das Singen mit Verstand.
Er bevorzugte Sänger mit starken aber nicht schweren Stimmen mit kultiviertem Vibrato (schwache lehnte er für das Theater ab, weil sie nicht oder kaum zu hören waren) und mit Geläufigkeit (aber nicht als Selbstzweck), die auch das Cantabile beherrschten, in der Lage waren, Haltetöne zu gestalten und darüber hinaus vom piano bis forte und im messa di voce zu singen.
Er lehnte Monotonie, Stimmschwäche aber auch Forcieren ab und missbilligte gefühllosen Gesang.

Aus heutiger Sicht mag das für Viele ein verblüffendes Ergebnis sein, da ja gerade im Zuge der Suche nach dem sogenannten Originalklang oft das Gegenteil postuliert wird und diese Forderungen sich mittlerweile in den Hörgewohnheiten manifestiert haben.
Es drängt sich natürlich die Frage auf, wie es zu diesem heutigen Denken überhaupt kommen konnte, denn Mozarts Sätze sind trotz der anderen Ausdrucksweise der damaligen Zeit doch sehr eindeutig.
Wie eingangs erwähnt liegt es mit Sicherheit zum Teil an der Mode des Barockgesangs, dessen heutiges Stimmideal (15) sich auf den Mozart-Gesang ausgedehnt hat, aber die Gründe sind bestimmt vielfältiger.

Kultur ist immer auch Spiegel des gesamtgesellschaftlichen Zustandes und am Beispiel des Mozart-Gesangs lässt sich hier Einiges ablesen:

Wir leben in einer Zeit scheinbar ständig wachsender Individualisierung, die in Wahrheit zu immer größer werdender Uniformität, Beliebigkeit, Gefühlskälte, Verbergen der Persönlichkeit und zum reinen „Funktionieren“ führt. Soziale Bindungen werden immer schwieriger, die Wertemaßstäbehaben sich stark ins Materielle verschoben und Tugenden wie Verantwortungsbewusstsein, Ehrlichkeit, Gefühlsechtheit und menschliche Wärme, die einmal gesellschaftlich hohe Anerkennung genossen, sind heute eher ein Makel und behindern die persönliche Karriere.
Ein Gesangsideal für Mozartpartien, das kleine (16) oft sogar dünne, farblose und dadurch auswechselbare (Beliebigkeit), schwingungsarme Stimmen fordert, verdeutlicht diesen Hang zur Uniformität. Wenn alles gleich oder ähnlich klingt, geht man kein Risiko ein, polarisiert nicht, bezieht nicht Stellung, rüttelt nicht auf, weist in keine persönliche künstlerische Richtung. Dadurch dass dramatische Akzente nicht gesetzt und echte Gefühle nicht gezeigt werden, plätschern zahllose Mozart-Opernabende langweilig und unterkühlt dahin. Auch von Seiten der Kritiker (Teil der Gesellschaft) wird diese Entwicklung unterstützt. Sie beanstanden oftmals dramatischen Ausdruck, wenn er sich denn endlich einmal Bahn bricht und bewerten das Zeigen intensiver Gefühle als zu viel Pathos, als wären sie unangenehm berührt von künstlerischer Authentizität. Auf der anderen Seite loben sie das Gleichmaß, nennen die dünnste und engste Stimme noch eine schlanke Mozartstimme oder loben deren angeblichen Parlando-Stil. Auf die Spitze wurde dieses Denken getrieben, als bei einer fragwürdigen Inszenierung der „Entführung aus dem Serail“ unlängst von einer Kritikerin die Momente in der Aufführung für die besten und als zeitgemäß erachtet wurden, als keine Musik mehr erklang, also niemand sang, kein Orchester spielte, es auch keine Dialoge zu hören gab, sondern pantomimische Folter auf der Bühne stattfand.

Bleibt zu hoffen, dass dem Mozart-Gesang bald neue Entwicklungsmöglichkeiten offen stehen, bzw. die Rückbesinnung auf älteres Wissen und Können einsetzen wird. Die Zeichen der Zeit scheinen nicht schlecht dafür zu stehen. Gefühlswärme wird wieder mehr herbeigesehnt, der Zustand der Gesellschaft wird von Vielen als unerträglich bezeichnet und in der Kunst fragt man wieder mehr nach Einmaligkeit und Risikobereitschaft.

Natürlich ist das Gesangsideal Mozarts sehr schwer zu erreichen, da es eine äußerst ausgereifte Gesangstechnik erfordert und darüber hinaus eine hohe Musikalität, Bühnenpräsenz und Demut. Dennoch oder gerade darum ist es lohnend, diesen Weg zu beschreiten und dadurch den Figuren der so oft aufgeführten Bühnenwerke Mozarts, neue Lebendigkeit, Innigkeit und Wärme, Dramatik und Emotionalität, also zusammenfassend menschliche Tiefe zu geben.

Lassen wir zum Schluss den Komponisten noch einmal zu Wort kommen mit seinem Rat an die Sängerin Aloisia Weber:

„vor allem lege ich Ihnen den Ausdruck nahe – empfehle Ihnen, über den Sinn und die Macht der Worte nachzudenken – sich ernsthaft in den Zustand und die Situation der Andromeda zu versetzen – sich vorzustellen, Sie selbst seien diese Person; - wenn Sie auf diesem Weg fortschreiten mit Ihrer wunderschönen Stimme – mit Ihrem schönen Vortrag – werden Sie in kurzer Zeit unfehlbar eine vorzügliche Sängerin sein.“

Verena Rein

Anmerkungen:
(1) aus: Brief Mozarts an seine Schwester über die Oper in Mantua; Mailand, 26.1.1770
(2) Auf die Nennung von Sängernamen wird hier und im Folgenden bewusst verzichtet, da es um das Aufzeigen von Tendenzen und Strömungen eines Phänomens geht und nicht um Einzelpersonen. Die erwähnten Einspielungen sind überdies jedermann zugänglich.
(3) entsprechend der jeweiligen Rolle
(4) aus: Brief Mozarts an seinen Vater; Paris, 12.6.1778
(5) Idomeneo
(6) aus: Brief Mozarts an seinen Vater; München, 27.12.1880
(7) ebda.
(8) Aloisia Weber
(9) aus: Brief Mozarts an seinen Vater; Paris, 24.3.1778
(10) aus: Brief Mozarts an Aloisia Weber; Paris, 30.7.1778; Übersetzung aus dem Italienischen
(11) Aloisia Weber
(12) aus: Brief Mozarts an seinen Vater; Mannheim, 19.2.1778
(13) aus: Brief Mozarts an seine Schwester; Verona, 7.1.1770
(14) aus: Brief Mozarts an seinen Vater; Paris, 9.7.1778
(15) auch dieses wäre an anderer Stelle zu hinterfragen
(16) für alle Partien